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Bildungskurier: Angriffe auf die Selbstverwaltung

24. September 2018

Bildungskurier: Angriffe auf die Selbstverwaltung

 

Die Selbstverwaltung ist aus dem Sozialstaatssystem und aus der Interessensvertretung, wie wir sie heute in Österreich kennen, nicht wegzudenken. Die Sozialversicherungsträger und Kammern sind selbstverwaltete Organisationen, die im Rahmen der Gesetze handeln.

Die historische Entwicklung der Selbstverwaltung in Kammern und in Versicherungsverbänden verlief unterschiedlich. Beide ermöglichen umfassende Repräsentation wirtschaftlicher und sozialer Interessen. Sie sind zudem miteinander verbunden, denn die abgeleitete Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger basiert auf den fraktionellen Ergebnissen der AKWahlen. Die Arbeiterkammern entsenden SelbstverwaltungsvertreterInnen in die Gremien der Sozialversicherungsträger, beispielsweise die Leitungsausschüsse.

Repräsentation der Interessen

Die Handelskammer war der erste „bürgerlich-gewerbliche“ Selbstverwaltungskörper. Sie diente als Vorbild für die Arbeiterkammer und entstand per Gesetz im März 1850. Die selbstverwaltete
Interessensvertretung war eine Errungenschaft der bürgerlichen Revolution von 1848, die von der Arbeiterschaft unterstützt worden war. Die Arbeiterbewegung forderte nun ebenfalls für die lohnabhängig Beschäftigten die gebündelte Interessensvertretung. Am 26. Februar 1920 beschloss das Parlament mit sozialdemokratischer Mehrheit die Gesetzesvorlage über die Errichtung von
Kammern für Arbeiter und Angestellte. Die Arbeiterkammern sollen den Handelskammern als „gleichwertige Partner“ gegenüberstehen.

Selbsthilfe lohnabhängig Beschäftigter

Schon vor der gesetzlichen Verankerung der Sozialversicherungen gab es im Falle von Krankheit selbstverwaltete Gegenseitigkeitsvereine, die nach dem Versicherungsprinzip arbeiteten und die
von regionalen Kräften, vor allem aus der Arbeiterschaft, aufgebaut wurden. In den späten 1860er und 1870er Jahren entstanden aus den Arbeiterbildungsvereinen die ersten von ArbeiterInnen über die Berufsgruppe hinweg selbstverwalteten Kassen. Die „Allgemeine Arbeiterkranken- und Unterstützungskasse“ in Linz hatte sich 1869 aus dem Linzer Arbeiter-Bildungsverein entwickelt und war gemeinsam mit jener in Wien die erste ihrer Art.

Nach der Einführung des ersten Arbeiter-Krankenversicherungsgesetzes 1889 wurden diese regionalen Einrichtungen erweitert. Seit Beginn erfolgte die Finanzierung durch Beiträge der Versicherten und der Dienstgeber, abhängig von der Höhe des Einkommens. Zur Krankenversicherung steuerten ArbeitnehmerInnen zwei Drittel bei, die ArbeitgeberInnen ein Drittel. Für die Unfallversicherung, eingeführt 1888, wurden wegen der Haftpflicht im Falle der Arbeitsunfälle die ArbeitgeberInnen als überwiegende BeitragszahlerInnen bestimmt. Die ArbeitgeberInnen befreiten sich mit ihrem Beitrag von diesen Fürsorge-und Haftpflichten.

Aus der Not eine Tugend

Schon früh erkannte man die politische Bedeutung der Kassenselbstverwaltung. Mit der Einführung der Sozialversicherungsstammgesetze führten die konservativen Kräfte in Österreich sukzessive die Idee des Bismark‘schen staatlich organisierten Sozialversicherungssystems ein. Dieses wollte nicht nur die Verbesserung der sozialen Situation der Arbeiterschaft, sondern war auch als Mittel zur Zähmung der aufkommenden Arbeiterbewegung gedacht. Durch die Einführung von gemeinsam von ArbeiternehmerInnen und UnternehmerInnen finanzierten Sozialversicherungen sollte der Klassenkonflikt entschärft und gleichzeitig die herrschende Gesellschaftsordnung abgesichert werden.

Was als Mittel zur Schwächung gedacht war, entwickelte sich durch die Selbstverwaltung zu einem bedeutenden Instrument der politischen Einflussnahme der ArbeitnehmerInnen auf staatliches Handeln und staatliche Verwaltung. Letztlich verlagerte der Staat im Bereich der Absicherung sozialer Risiken seine Zuständigkeit zu wesentlichen Teilen auf die Betroffenen. Die Alternativen zur Selbstverwaltung sind eine staatliche oder eine privatwirtschaftliche Verwaltung. Die eine Alternative führt zu mehr staatlicher Bürokratie und die staatliche Verwaltung kann nie so nahe an den Bedürfnissen der Betroffenen sein, wie die Betroffenen selbst. Die andere Alternative setzt sich den auf Gewinn und Risiko ausgerichteten Märkten, seinen Konjunkturen und dem Wettbewerb aus, was riskant ist, wenn es um die Absicherung von Krankheit, Unfall und Alter geht.

Selbstverwaltung verteidigen

Die organisierte Arbeitnehmerschaft hatte immer wieder gegen Einschränkungen der Selbstverwaltung in Kassen und Kammern zu kämpfen. Eine einschneidende Erfahrung war die Abschaffung der sozialdemokratischen Verbände und die de-facto Abschaffung der Selbstverwaltung im autoritären „Ständestaat“ durch Regierungskommissäre und Verbot der sozialdemokratischen Gewerkschaft.

Die konkrete Ausgestaltung der Selbstverwaltung war auch immer Ausdruck von Machtverhältnissen und ist deshalb veränderbar. Durch die Verankerung der Selbstverwaltung in der Verfassung (2008) erfolgte eine gewisse Absicherung des Modells. Die aktuellen Reformvorhaben der türkis-blauen Regierung versuchen, die Vertretung der sozialen und politischen Interessen nachhaltig zu schwächen. Beitragskürzungen bei den Kammern schwächen vor allem die Arbeitnehmervertretung. Einsparungen in der AUVA lassen vor allem den Arbeitgeberanteil in der Sozialversicherung schrumpfen. Durch die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen zur ÖGK werden die regionale Autonomie, berufsspezifische Versorgung und schnelles Handeln eingeschränkt.
Auch kann diese Maßnahme der Vorbereitung einer (zumindest teilweisen) Privatisierung des Krankenkassensektors dienen. Nicht zuletzt wird die Repräsentation und Selbstverwaltung durch den Machtwechsel hin zur Regierung und zu Arbeitgebern de-facto abgeschafft. Wesentliche Probleme wie medizinische Über- und Unterversorgung, Ärztemangel oder auch Lohnkostensteigerungen weit hinter der Produktivität werden dadurch sicher nicht gelöst.

 

Die Autorin

 

Angela Wegscheider 

arbeitet am Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der Johannes-Kepler-Universität Linz.
Ihre Arbeitsthemen sind Disability Studies, Gesundheits und Sozialpolitik. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Betriebsrates für das wissenschaftliche Personal
und Vorsitzende der Universitätsgewerkschaft in der GÖD OÖ.

 

Die vollständige Ausgabe des Bildungkuriers ist hier zu finden.

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